Dokufiktion in der Gegenwartsliteratur

Zum Oberthema "Dokufiktion in der Gegenwartsliteratur" werden unterschiedliche Formen und Funktionen des Dokumentarischen in Fiktion untersucht.

"Dokufiktion" findet dem Namen nach zwischen den unscharfen Grenzen von Fakt und Fiktion statt. Ursprünglich ein Terminus aus der Filmtheorie, wird erst in jüngerer Zeit versucht, ihn auch für Literatur fruchtbar zu machen. Allerdings ist eine Theoriebildung nach wie vor erst im Entstehen, auch einen festen Kanon von Werken, welche einem so benannten Genre angehören, gibt es nicht. Ohne Anspruch auf theoretische Engführung nähert sich dieses Aufsatzprojekt diesem Feld von verschiedenen Seiten. Der Terminus der Dokufiktion soll so anhand konkreter literarischer Werke diskutiert und zugleich die vielfältigen Figurationen und Fragestellungen, die eine solche Genrebezeichnung mit sich bringen, aufgefächert werden.
 

«Schreiben Sie das auf»* – fiktives Dokumentieren und politisches Handeln

Dieser Aufsatz widmet sich Dokufiktionen, die sich dezidiert politischer Realitäten annehmen. Erzählungen stehen im Fokus, die sich paratextuell nicht als 'Dokumentation' behaupten, die aber mit Techniken des Dokumentarischen verfahren und diese – in der Binnenerzählung – auf reale Ereignisse oder Situationen anwenden. Damit geht es also um die Gestaltungsmöglichkeiten des Verhältnisses von Erzählung und Fiktion, darum, ob und wie das Faktische erzählbar wird.
Ein Beispiel dafür ist der Roman Alle Hunde sterben (2020) von Cemile Sahin. Das Buch wird auf der Innenseite des Buchumschlags als "Chronik über ein Land, geprägt von Militarismus und Nationalismus" beschrieben. Gemeint sind die Türkei und die Gewalt, welche der Staat hier gegenüber seiner eigenen Bevölkerung ausübt. Damit eröffnen sich Fragen nach der Erzählbarkeit von (Kriegs-)Verbrechen, Traumata, Gräueltaten und realer Gewalt, also einer tatsächlichen ‚Dokumentierbarkeit‘ in fiktionalen Texten. Welche Rolle spielen Paradoxien von (Augen-)Zeugenschaft, zumal aus der Distanz der Diaspora? Inwiefern wird das Dokumentarische einem Werk erst durch die Rezeption eingeschrieben, die meint, ein Zeugnis vor sich zu haben? Diese Fragen lassen sich an das weitere Forschungsinteresse des Projekts anschließen, indem die Bedeutung eines solchen Erzählens für das Verhältnis von Fiktion und Politik bzw. fiktionalem Schreiben und politischem Handeln erörtert werden soll.

*Wiederkehrende Chiffre in Cemile Sahin, Alle Hunde sterben, Berlin: Aufbau Verlag 2020, z.B. S. 21.

Kontakt

Stanford University
Hevin Karakurt
Division of Literatures, Cultures, and Languages
Stanford, CA 94305


Vollendete Aufsatzprojekte:

Populismus in der Gegenwartsliteratur

 

Lea Liese: "Linke Theorie, rechte Narrative? (Post-)Politische Ununterscheidbarkeit bei Michel Houellebecq erzähltheoretisch betrachtet"

Erscheint in: Mario Anastasiadis, Charis Goer (Hg.): Popkultur und Populismen. Interdisziplinäre und internationale Perspektiven, Bielefeld: transcript 2024 (im Erscheinen).

Das Aufsatzprojekt vergleicht zwei französische und zwei deutsche Romane im Hinblick auf ihr politisches Erzählen im Zeichen des Postpolitischen. Obwohl Michel Houellebecq den Vorwurf einer popkulturellen Selbstvermarktung weit von sich weisen würde, sind bei ihm Fiktion und öffentliche Inszenierung kaum mehr zu trennen. Autor und Romanwerk stehen nicht erst seit „Unterwerfung“ (2015) gleichermaßen unter Populismusverdacht. Dabei äußert sich das Politische in Houellebecqs Romanen weniger in rechtspopulistischen Narrativen als in der Kritik an einem nur mehr warenförmigen Liberalismus. Die Inszenierung von trivialen Alltagspraktiken, von Sex und Massenkonsum erweist sich in ihrer politikverdrossenen Dekadenz aber als explizit politisch. Denn vor einem kapitalismuskritischen Theoriegerüst ist Houellebecqs gesamtes Romanwerk gespickt mit Konkurrenz- und Verdrängungsängsten, die er ebenso in seinen Reden und Interviews (herauf)beschwört. Ganz anders die feministische Schriftstellerin Virginie Despentes: Sie hat mit „Vernon Subutex“ (2015-2017) eine Romantrilogie vorgelegt, die zwar ähnlich ungeschönt-vulgär von einer Abstiegsgeschichte erzählt, dabei aber kein monotoner Abgesang auf den Pluralismus ist, wie ihn Houellebecq anstimmt, sondern ein Gesellschaftspanorama, das Populismus und Protest vielstimmig zusammenbringt.

 

Lea Liese: "Von der 'urban legend' zum Verschwörungsgerücht. Die Politik moderner Sagenbildung"

Erscheint in: Fabula 1-2/2024 (im Erscheinen).

Das Aufsatzprojekt möchte den Stoff bekannter urban legends auf seine gesellschaftspolitische Relevanz hin hinterfragen, indem deren narratologische und mediensoziologische Funktionsmechanismen äquivalent zu aktuell kursierenden„Verschwörungsgerüchten“ (Butter 2018) in den sozialen Netzwerken untersucht werden. Urban legends sind seit den 1930er-Jahren ein vieldiskutiertes Objekt der volkskundlichen Erzählforschung, obwohl oder gerade weil sie nicht nur wahrheits-, sondern auch strukturontologische Probleme aufweisen. Zum einen verbreiten sie sich wie Gerüchte nach dem sogenannten FOAF-Modell (Friend of a friend), was erstens die unsichere Quellenlage verschleiert, und zweitens den ‚audience effect’, die Bedeutung der Zuhörerschaft, betont. Zum anderen vermischt sich in dieser Gattung der modernen Sage Reales mit Elementen des kollektiven Unbewussten (Petzoldt 2002). Urban legends bewältigen Gegenwart im Modus des Vergangenen, indem sie einerseits auf tradiertes (Nicht-)Wissen rekurrieren, andererseits ihren Stoff thematisch und formal an den neuen Krisen und Medien der Gegenwart aktualisieren. Indem sie vor allem von Verlusterfahrungen erzählen, binäre Dichotomien errichten und Affekte mobilisieren, sind moderne Sagen auch kulturell fabrizierter Ausdruck von Angst. Dies äußert sich vor allem in xenophoben Narrativen („Die ausländischen Nachbarn/Flüchtlinge haben mein Haustier gegessen!“), homophoben Aids-Gerüchten („Aids-Mary“, bewusst platzierte Aids-Erreger in Nahrungsmitteln und öffentlichen Gebrauchsgegenständen) sowie konspirativen Kontaminationsgeschichten aller Art (verseuchtes Trinkwasser, Chemtrails etc.). Trotzdem stand eine dezidiert politische Verortung bisher hinter ihrer Mediatisierung als popkulturelles Phänomen zurück, was zu der Popularisierung und Normalisierung rassistischer, antisemitischer und sexistischer Positionen beigetragen haben könnte. Diese Problematik möchte das Aufsatzprojekt genauer beleuchten.

Kontakt

Universität Basel
Lea Liese
Deutsches Seminar
Nadelberg 4
4051 Basel